Vor einiger Zeit ist mir die Sicherung durchgebrannt. Meine Tochter erzählte mir am Telefon, dass der Sportlehrer unserer neunjährigen Enkelin die Kinder bei 32 Grad im Schatten in der 7. Unterrichtstunde um 14 Uhr in der prallen Sonne hat Staffellauf machen lassen. Das Kind hatte noch zwei Stunden später einen roten Kopf.

Als ich das gehört habe, bin ich sofort aufgesprungen und wollte ins Auto einsteigen und zu diesem Sportlehrer fahren, um ihn anzuschreien oder zu verhauen. Das war meine erste Reaktion. Ich war so außer mir, dass mein Verstand nicht mehr funktioniert hat. Erst nach etwa einer Minute begriff ich, dass die Situation längst vorbei war, der Sportlehrer sicherlich inzwischen zuhause war und hier andere Schritte notwendig waren. Die Situation war nicht mehr zu retten, nur für die Zukunft. Was war passiert?

Wenn das Frontalhirn aussetzt

Mir war für kurze Zeit der Verstand vernebelt. Mein Stressregulierungsmechanismus war außer Kraft gesetzt. Ich hatte außer einem Kampfimpuls nichts mehr gespürt. Erst als ich mich wieder gefangen hatte, konnte ich spüren, wie traurig ich war, dass ein Erwachsener den Kindern so etwas vollkommen Unnötiges antut. Ich fühlte mich ohnmächtig, dass wir das Kind nicht hatten schützen können.

Kampfimpuls vom Reptiliengehirn

Wenn uns etwas außerordentlich bedrängt, kommt als erster Impuls ein Überlebensimpuls unseres Reptiliengehirns, unser Emotionalhirn und das denkende Frontalhirn pausierten in diesem Moment der Gefahr. Kampf, Flucht oder Starre sind die drei Möglichkeiten, einer Gefahr zu entgehen. Der erste Impuls war bei mir ein Kampfimpuls. Ich konnte erst kurze Zeit später wieder denken. Wie kam es, dass ich so stark reagiert habe? Nachdem ich eine Zeitlang gesessen und nachgedacht hatte kamen mir Erinnerungen und Tränen.

Ich erinnerte mich an die Zeit als Studentin im Lager der vormilitärischen Ausbildung. In voller Ausrüstung mussten wir im Schutzanzug mit Gasmaske rennen, und ich erinnerte das Gefühl, keine Luft zu bekommen und nicht mehr weiter zu können. Hatte die Überlastung meiner kleinen Enkelin diese Erlebnisse nach so langer Zeit getriggert? Und dazu kam noch das Gefühl, dass die ganze Quälerei so sinnlos war. Wir waren der Anordnung Stärkerer machtlos ausgeliefert.

Die Ursachen für eine Überreaktion

Wenn wir überreagieren, ist unser Stressregulierungsmechanismus in diesem Moment gestört. Der Stress ist zu hoch, wir können ihn nicht regulieren. Das liegt nicht an unserer Charakterstruktur, auch bei sehr ausgeglichenen Menschen kann es zu impulsiven Ausbrüchen kommen. Zu viele Anforderungen, Bedrängnis, das Gefühl der Ohnmacht, Erinnerungen, die vergangene traumatische Situationen berühren, lang anhaltender Groll, der Energien bindet, schwere Schicksalsschläge, systemische Verstrickungen und übernommene Gefühle können die Ursache für eine Überreaktion sein. Hilfe und Unterstützung ist auf verschiedenen Wegen und auf unterschiedliche Weise möglich.

Zu viele Anforderungen

Die wohl häufigste Ursache für ein Aufbrausen und „aus der Haut fahren“ ist einfach eine Überlastung. Zuviel auf einmal, zu wenig Zeit zum Ausruhen, zu wenig Möglichkeiten, zeitig genug Grenzen zu setzen. Noch mehr und noch mehr, da läuft das Fass einfach über. Die Wut und ein Ärgerausbruch sind verständlich. Sie sind zumeist auch zu beeinflussen.

Zeitig genug Grenzen zu setzen, unsere Belastbarkeit immer besser kennenzulernen und dementsprechende Pausen und Erholungszeiten in den Tagesablauf einzubauen, das können wir mit der Zeit lernen. Dann müssen wir nicht überreagieren, um unseren Schutzraum zu verteidigen. Natürlich können wir dieses Sicher-Grenzen-setzen je nach unserer Familiengeschichte und Prägung oft nicht von Beginn an. Aber wenn wir mal wieder „aus der Haut gefahren“ sind, dann wird es schrittweise möglich, auch neue Reaktionen einzuüben.

<h3″>Trigger können das Fass zum Überlaufen bringen

Eine weitere Möglichkeit als Ursache für eine Überreaktion sind Trigger, das sind Ereignisse, Geräusche, Gerüche, Berührungen, Worte und Empfindungen, die an frühere traumatische Erlebnisse erinnern. Oft ist es nicht einfach, diese Reaktionen zuzuordnen, denn die traumatischen Ereignisse sind zumeist verdrängt und werden nicht bewusst erinnert, um das Überleben zu sichern. Hier hilft die Aufstellungsarbeit.

Langanhaltender Groll bindet Energien

Eine dritte Möglichkeit ist langanhaltender Groll auf Personen, von denen wir uns ungerecht behandelt, nicht gesehen oder abgewertet gefühlt haben. Dann ist das Fass schon vom Groll vollkommen gefüllt, und jede kleine Belastung kann das Fass zum Überlaufen bringen. Wir können Verletzungen nicht vergessen und reagieren bei Kleinigkeiten schon über. Partner, ehemalige Partner und die Eltern sind oft Auslöser. Doch auch im beruflichen Kontext kann es zu fehlender Wertschätzung und anhaltendem Groll kommen. Auch hier hilft die Aufstellungsarbeit.

Schicksalsschläge und außergewöhnliche Belastungen

Wenn wir eine geliebte Person verlieren durch deren Tod oder durch Trennung, wenn eine schwere Erkrankung oder ein Unfall unser Leben erschüttern, dann kann der Stresspegel so hoch sein, dass wir ihn nicht mehr selbst regulieren können. Dann genügt eine geringe Belastung, dass uns alles zu viel wird. Wir brauchen Unterstützung. Das ist für jeden verständlich.

Doch manchmal, und nicht selten, kommen wir auch im ganz normalen Alltag an unsere Grenzen. Wenn wir oft überreagieren und das Maß unserer Reaktionen selbst als nicht angemessen empfinden, ist es möglich, dass wir unbewusst etwas für andere Familienmitglieder tragen, das uns zu schwer geworden ist. Denn eine wesentliche Ursache für Überreaktionen sind übertragene Gefühle und systemische Verstrickungen. Wir sind in traumatische Ereignisse unserer Familie eingebunden, von denen wir zumeist nichts wissen, aber die dennoch auf uns wirken.

Wann die Aufstellungsarbeit hilft

Wenn hinter unserer Überreaktion verborgene Traumata, Verstrickungen in die Schicksale der Herkunftsfamilie, langanhaltender Groll alter Verletzung oder gar übernommene Gefühle als Ursache verborgen sind, dann reicht das Üben neuer Reaktionen nicht aus. Eine Familienaufstellung kann jedoch verborgene Dynamiken ans Licht bringen und heilsame Schritte bewirken. Damit es uns leichter fällt, im Umgang mit unseren Mitmenschen ein gutes Maß zu finden. Nicht zu explodieren, sondern konstruktive Lösungen zu finden. Um im Herzen frei zu sein für den eigenen guten Weg.

Im Herzen frei

Wie Familienaufstellungen helfen, Probleme und Blockaden zu lösen, beschreibt mein Buch „Im Herzen frei“. Das Buch zeigt Lösungsmöglichkeiten für anhaltende Probleme auf. Über die Webseite des Akkadeus-Verlages www.akkadeus-verlag.de und die Webseite www.im-herzen-frei.de kann man das Buch bestellen, es gibt auch eine Leseprobe.

Auch gibt es ein kurzes Video als Interview zum Buch:

Ich wünsche dir, dass du Verständnis findest, wenn dir mal alles zu viel wir. Verständnis von dir selbst. Aber auch von den Menschen, die deinen Lebensweg begleiten. Wenn all die vielen Anforderungen mal nicht so einfach zu lösen sind. Ich wünsche dir aber vor allem, dass die Zeiten bald wieder leichter werden und es möglichst auch bleiben.

Alles Liebe
Renate

Impressum:
Text und Foto: Dr. Renate Wirth

Praxis: Prinzregentenstraße 7 in 10717 Berlin

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