Vertauschte Rollen zwischen Eltern und Kindern sind nicht die Regel, aber bei weitem auch nicht die Ausnahme. Kinder fühlen sich im Inneren zuständig, dass es den Eltern gut geht. Sie ersetzen vorige Partner des Vaters oder der Mutter, nehmen die Rolle von Vater oder Mutter ein oder versuchen sogar, dem Vater oder der Mutter deren Eltern zu ersetzen. Das alles geschieht aus unbewusster Liebe.

Vertauschte Rollen: Als Tochter die Mutter vertreten

Nicht selten steht die Mutter in ihrer Seele nicht wirklich an der Seite des Vaters, da sie selbst auf traumatische Ereignisse schaut oder darin eingebunden ist. Wenn sie auf ihren verlorenen Vater, die schmerzhaft abwesende Mutter oder ein fehlendes Geschwisterkind schaut, dann steht sie in ihrer Seele für den Vater als Frau nicht wirklich zur Verfügung. Dann geschieht es, dass die Tochter den Platz der Mutter einnimmt, da sie die schmerzhafte Lücke für den Vater fühlt und diese ausgleichen will.

Als Kind geht das oft gut. Sie ist Balsam oder Trost für den Vater oder gar seine kleine Prinzessin. Doch später führt dies zu verwirrenden Gefühlen, zu Groll, Wut und Abwertung, Verachtung und Ablehnung. Und oft auch zur Ablehnung der Mutter. Die Tochter stellt sich unbewusst über die Mutter, sie empfindet sich „als die bessere Frau für den Vater.“

Wenn sich die verborgene Dynamik zeigt und Lösungsschritte für alle, auch für die Mutter, möglich werden, kann die Tochter ihren eigentlichen Platz einnehmen. Der Satz zur Mutter: „Du bist die bessere Frau für Papa.“ ist oft schmerzhaft, aber heilsam.

Vertauschte Rollen: Als Tochter eine vorige Liebe des Vaters vertreten

Es geschieht nicht selten, dass ein Mädchen unbewusst eine erste Liebe oder eine verlorene Liebe des Vaters vertritt. Auch das ist eine vertauschte Rolle. Die Tochter „ersetzt“ ihm diese Frau, ohne dass sich beide auch nur im geringsten dessen bewusst sind. Dann steht die Tochter nicht am richtigen Platz. In der Aufstellung zeigt sich das meist ganz deutlich. Die Folge sind auch hier verwirrende Gefühle.

Eine unerfüllte Liebe überdauert oft Jahrzehnte und geht auch über den Tod hinaus. Schicksalhafte Trennungen geben zwar den Weg frei für eine neue Bindung, aus der wir hervorgegangen sind. Doch unser Leben existiert durch einen Verzicht. Einen ungewollten, schicksalhaften Verzicht.

Was ist die Lösung? Wird die Frau dazugestellt, mit der der Vater noch im Herzen verbunden ist, so ändert sich sofort das Aufstellungsbild. Erst jetzt, wenn sich beide aufeinander zubewegen können, hat die eigentliche Seelenbewegung eine Chance, an ein gutes Ende zu kommen.

Den Verzicht der vorigen Liebe des Vaters durch die Mutter anzuerkennen bringt oft für alle Erleichterung. Es ist eine einfache Wahrheit. Wenn die Mutter zu einer vorigen Liebe des Vaters sagen kann: „Du warst vor mir da. Ich achte deinen Verzicht, auch wenn er nicht freiwillig war.“

Wenn die Wahrheit ans Licht kommt, hört sie auf zu wirken. Dann wird die „gute Ordnung“ in der Familie möglich. Erst dann kann die Tochter ihren ihr gemäßen Platz einnehmen. Und hat nun eine Chance, endlich als Tochter dem Vater zu begegnen.

Ich war immer „die zweite Frau“. Die große Liebe meines Vaters

Hier möchte ich die Geschichte von Angelika erzählen. Angelika schreibt:

„Schon lange wollte ich dir zu meiner ersten Aufstellung bei dir ein Feedback senden. Damals, vor ca. 4 Jahren, bin ich mit der Frage gekommen. Wieso bin ich in jeder Beziehung immer die „zweite“ Frau. Entweder wurde ich betrogen, oder in meiner langen Ehe weit hinter die Arbeit gestellt und nie wirklich wahrgenommen.

Du hast damals meine Eltern und mich aufgestellt. Meine Eltern sind zu Boden gerutscht, haben
Rücken an Rücken gelehnt auf dem Boden gesessen und jeder hat in eine andere Richtung geblickt.
Ich sehe mich noch heute vor Ihnen fast kriechen, nur damit sie mich ansehen, von mir Notiz nehmen. Es war vergeblich. Meine Mutter hat mich die ganze Aufstellung über nicht ein einziges Mal angesehen.

Meinem Vater hast du dann eine andere „zweite“ Frau an die Seite gegeben. Sie saßen gemeinsam Seite an Seite und haben mich beide angesehen. Ich weiß nicht mehr sicher, wie das Endbild war – aber es hat sich gut angefühlt.

Letztes Jahr an Ostern haben wir meinen Vater mit an den Königsee genommen, wo meine Mutter
auf einer REHA-Maßnahme in einer Klinik war. Als wir an einer kleinen Kirche vorbeigekommen sind, hat mein Vater auf einmal angefangen, von dieser Frau zu erzählen – es gab sie tatsächlich. Sehr lange und intensiv hat er von ihr und ihrer gemeinsamen Zeit, bevor er meine Mutter kennengelernt hat, berichtet. Barbara, so hieß sie, hat sich von ihm getrennt und es hat ihn all die Jahre nicht losgelassen.

Nachdem er von ihr erzählt hatte, hat sich wie ein Wunder das Verhältnis zwischen ihm und meiner
Mutter verändert. Meine Eltern haben Zeit ihres Lebens heftig gestritten und mein Vater hat meine
Mutter oft verbal schlecht behandelt. Auf einmal sieht er sie und ist glücklich, dass er sie hat. Er ist ganz mild und freundlich zu ihr geworden. Ob sie es schätzen kann, weiß ich nicht. Doch es tut mir gut es zu sehen.

Auch bei mir hat sich die Position verändert. Ich habe seit einigen Jahren eine Beziehung mit einem
verheirateten Mann – ich bin die klassische „zweite Frau“. Entgegen aller Vernunft können wir einfach
nicht ohne den Anderen, wobei immer klar war, dass er sich nicht trennt.

Etwa zeitgleich mit der Veränderung meines Vaters hat sich auch bei uns die gegenseitige Wahrnehmung verändert. Auch wenn wir nicht zusammen leben, bin ich inzwischen die Frau mit der er morgens „aufsteht“ und abends „ins Bett geht“, mit der er seine Sorgen wie die freudigen Momente teilt.

Es fühlt sich nicht mehr an wie die „zweite“ Frau. Danke Renate. Alles Liebe. Angelika“

Immer wieder können wir mit Erstaunen feststellen, dass die Wirkung der Aufstellungen weit über uns hinausreicht. Sie erfasst auch Familienmitglieder, die in der Aufstellung nicht selbst mit dabei waren. Auch für sie werden heilsame Schritte möglich.

Vertauschte Rollen: Als Sohn den Vater vertreten

Auch für Söhne kann die Ursache der Ablehnung und der Schwierigkeiten zwischen Vater und Sohn in unbewusst vertauschten Rollen liegen. Wenn der Vater als Partner im Herzen für die Mutter nicht wirklich zur Verfügung steht, wenn er zeitig verstorben ist oder sich von der Mutter getrennt hat, kann der Sohn den Platz des Vaters unbewusst einnehmen.

Es kommt nicht selten vor, dass eine verschobene Beziehung zwischen der Mutter und dem Sohn sich für beide richtig anfühlt. Wenn er als Sohn den Vater bei der Mutter vertritt versucht er, sich so zu verhalten, dass es der Mutter gut geht. Doch der Sohn zahlt einen hohen Preis.

Diese Söhne halten sich für etwas Besonderes. Sie sind daran gewöhnt, die Bewunderung von der Mutter zu bekommen. Doch mit dem inneren Gefühl: „Ich schaffe das nicht. Das ist mir zu groß.“ kommt der Sohn nicht in seine Kraft. Denn was der Mutter fehlt ist nicht der Sohn, sondern der Mann. Der Sohn kann ihr nicht geben, was ihr fehlt. Trotz aller Bemühungen schafft er es nicht. Das ist tragisch. Denn ein Mann kann das Mann-Sein nur beim Vater lernen.

Besonders tragisch ist es, wenn der Vater nicht nur fehlt, sondern auch von der Mutter verachtet wird. Der Sohn stellt sich dann im Inneren über den Vater, wertet ihn ab und lehnt ihn ab. Es ist deshalb besonders tragisch, da er damit schuldlos den männlichen Anteil in sich selbst abwertet. Dann hat der Sohn keine Kraft, zu sich selbst zu stehen, denn ihm fehlt die männliche Kraft.

Vertauschte Rollen: Als Sohn eine vorige Liebe der Mutter vertreten

Immer wieder sehe ich als Dynamik der Schwierigkeiten zwischen Vater und Sohn, wenn der Sohn unbewusst eine vorige Liebe der Mutter vertritt oder mit diesem Mann verbunden ist. Auch das ist tragisch. Denn damit ist der Zugang zum Vater versperrt.

Wenn die Mutter einen ersten Mann im Krieg verloren hat, dann war es nur durch diesen Tod möglich, dass der Vater nun die Mutter zur Frau nehmen konnte und somit der Klient die Chance hatte, als Sohn dieser Eltern geboren zu werden. Nur durch den Tod des ersten Mannes ist der Sohn am Leben. Das hält seine Seele nur dann aus, wenn er in Achtung auf diesen Verlust schaut. Es scheint jedoch für die Kinderseele die größere Kraft zu sein, der Mutter diesen Mann „zu ersetzen“.

Auch hier ist die Lösung: Wenn die Dynamik sichtbar wird und die „gute Ordnung“ in der Familie möglich wird, kann der Sohn seinen eigentlichen Platz einnehmen. Und hat nun endlich eine Chance, als Sohn auf seinen Vater zu schauen und dem Vater zu begegnen.

Vertauschte Rollen: Sich um den Vater kümmern

Kinder möchten Kinder sein. Doch oft waren die Väter traumatischen Lebenssituationen ausgesetzt. Die Schatten des Krieges sind lang. Selbst wenn der Vater da war, so kam es nicht selten vor, dass er doch nicht wirklich „anwesend“ war. Die Kinderseele spürt das Leid des Vaters und will helfen. Nicht er war der Gebende, sondern das Kind. So werden die Rollen unbewusst getauscht. Das Kind kümmert sich um den Vater, will ihn aufheitern und entlasten.

Das geht lange gut. Doch als Jugendliche und Erwachsene kommen Groll, Wut und Abwertung. Zum Groll kommen oft Verachtung und Ablehnung. Alles dies sind verständliche Reaktionen und Gefühle. Doch sie sind schmerzhaft und tun unserer Seele nicht gut. Unsere Seele will lieben dürfen. Auch unseren Vater.

Als Kind war ich zuständig, dass es meinem Vater gut geht

Hier möchte ich die Geschichte von Katja erzählen, deren Vater krank war und deren Aufgabe es war, den Vater aufzuheitern. Und wie es Katja gelang, die Liebe zu ihrem Vater auch noch nach 20 Jahren endlich leben zu dürfen.

Katja schreibt: „Nun zur Aufstellung im Sommer letzten Jahres. Wir hatten meinen Vater aufgestellt. Er war ein kranker und leidender Mann und ist schon vor mehr als 20 Jahren an Krebs verstorben. Unser Verhältnis war nie leicht. Ich war sein Lieblingskind und hatte die „Aufgabe“, dass es ihm gut geht. Zuckerbrot und Peitsche (wörtlich, nicht körperlich), ich hatte als Erwachsene rückblickend auf ihn oft Groll, Verachtung und Unverständnis.

In der Aufstellung ist mein Vater dann tatsächlich auch gleich zu Boden gegangen. Das heißt, ich habe noch versucht, ihn zu halten, so wie ich es auch als Kind getan habe, mental. Als er am Boden lag, war ich ratlos und fand nicht zu ihm, so wie auch im realen Leben, vor seinem Tod, da war ich 19 Jahre. Ich habe mich merkwürdig deplatziert gefühlt und fremd.

Er streckte die Hand nach mir aus und erst als ich mich neben ihn legte und in seinen Armen lag, konnte ich weinen, um ihn, um uns, um mich. Ich habe mich gehalten und geborgen, getröstet und geliebt gefühlt. Irgendwann konnte ich mich gut von ihm lösen und aufstehen und ein Stück entfernen.

Schon auf dem Heimweg habe ich tiefe Rührung und tiefe Liebe zu ihm gespürt, eine Befreiung und körperliche Kraft, regelrechte Gelöstheit und eine innere Fröhlichkeit und Dankbarkeit. Heute, mehr als ein Jahr später, merke ich, dass ich ihn tatsächlich ganz und gar gehen lassen konnte..

Es gibt keinen Ärger mehr, keine innere Schuldzuweisung, keine Verachtung. Ich merke auch, dass er die ganzen Jahre auf mich gewartet hatte und nun weggehen konnte, in eine andere Dimension.
Das innere Verhältnis zu ihm ist wie „reingewaschen“, und ich empfinde tiefe Dankbarkeit für ihn. Aber am meisten freut mich, dass ich gleich nach der Aufstellung das Bild meines verstorbenen Vaters aufstellen konnte und es nun jeden Tag mit Liebe und Dankbarkeit anschauen kann.“ Danke Katja. Ich freue mich mit dir.

Vertauschte Rollen sind nie bewusst

Es ist die große Chance der Aufstellungsarbeit, dass sich vertauschte Rollen zwischen Kindern und Eltern zeigen können. Erst wenn sie sichtbar werden wird es möglich, heilsame Schritte zu gehen und den eigentlichen Platz einzunehmen. Das wird als große Erleichterung empfunden. Denn erst jetzt wird es möglich, den eigenen Weg zu gehen. Und der Liebe zu den Eltern Raum zu geben.

Die Wirkung der Aufstellungen

Nach jedem Seminar sage ich den Teilnehmern, dass ich mich immer sehr freue, wenn ich ein Feedback per Mail bekomme, was sich nach der Aufstellung verändert hat. Die Teilnehmer berichten von unterschiedlichen Erfahrungen.

Nicht immer geschieht die Heilung sofort und so deutlich wie bei Katja. Mancher Heilungsweg braucht Zeit und vollzieht sich in verschiedenen Schritten. Doch wenn die Heilung der Verletzungen, die uns in unserer Kindheit geschehen sind, möglich wird und wir in inneren Frieden kommen, dann wird die Welt in unserem Inneren heller und schöner, entspannter und liebevoller. Das wünsche ich auch dir.

Wenn du dir nicht sicher bist, ob eine Familienaufstellung für dich der nächste gute Schritt sein kann, dann kannst du dir hier kostenlos das eBook „5 Schritte zu mehr innerer Freiheit“ herunterladen. Oder du kannst als Stellvertreterin oder als Stellvertreter die Aufstellungsarbeit im Seminar kennenlernen. Hier findest du die Termine und kannst dich hier auch anmelden.

Oder schau in dein Herz. Was fühlt dein Herz, wenn du an deinen Vater denkst? Und was wünschst sich dein Herz?

Ich wünsche dir, dass es dir gut geht. Und immer wieder heilsame Schritte, beim Lesen, beim Aufstellen und vor allem „im richtigen Leben“. Damit dein Herz weit und hell sein kann, wenn du an deinen Vater denkst.

Alles Liebe für dich.
Herzlichst
Renate

 

 


Impressum:
Text: Dr. Renate Wirth
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