Meine Großmutter Ida, die Mutter meiner Mutter, wurde 1882 geboren. Sie war 70 Jahre alt, als ich zur Welt kam. Ich habe mit meiner Großmutter bis zu meinem 17. Lebensjahr ein Zimmer geteilt. Am Abend, wenn wir beide im Bett waren, hat sie erzählt. Es waren ihre Lebensgeschichten, mit denen ich aufwuchs. Wahre Geschichten. Sie hatte den Kaiser miterlebt, den ersten und den zweiten Weltkrieg, hatte Hunger, die Inflation und untröstlichen Kummer erlebt. Und war trotz allem liebevoll und zugewandt geblieben. Sie war mein Schutz, meine Lehrerin, meine geliebte Großmutter.

Meine Familie

Das Foto oben zeigt meine Familie zur Goldenen Hochzeit meiner Großmutter Ida mit meinem Großvater Heinrich, den Eltern meiner Mutter. Ich bin der kleine blonde Lockenkopf auf dem Schoß meiner Mutter. Außer mir und meiner Schwester, die mir die Erlaubnis gegeben hat, das Bild zu verwenden, lebt heute niemand mehr von den Personen auf diesem Bild.
Doch das ist nicht wirklich so. Die Geschichten derer auf dem Bild sind in mir erhalten geblieben. Sie haben mich geprägt, sie leben in mir weiter. Und einige der Erlebnisse prägen auch heute noch meinen Lebensweg.
Ist es „Zufall“, dass meine Eltern nicht nebeneinander sitzen? Vielleicht ja, vielleicht auch nicht. Sicher ist auf jeden Fall, dass die Geschichte meiner Eltern in keiner Hinsicht leicht war und dass sie gut erklären kann, wie es dazu kam, dass beide auf dem Foto nicht nebeneinander sitzen.
Das Foto entstand 5 Jahre, nachdem mein Vater aus dem Krieg zurückgekommen war. Krieg und Gefangenschaft hatten ihn für immer verändert und geprägt. Aus beiden Familien, sowohl von meinen Großeltern mütterlicherseits als auch von meinen Großeltern väterlicherseits gab es viel Schweres, das auf der Familie lastete. Auf dem Foto ist es nicht zu erkennen. Hier kann man sehen: Es gab auch Freude. Auch diese Seite gab es.

Meine Großmutter Ida, die Mutter meiner Mutter

Meine Großmutter war klein und zierlich, ich denke, sie war nur eineinhalb Meter groß. Doch es konnte ihr niemand etwas vormachen. Sie war weise und klar. Vieles, was ich an Lebensweisheiten besitze, habe ich wohl von meiner Großmutter. Ihre Sätze waren kurz, aber immer trafen sie ins Schwarze.

Sie hatte 1901 mit 19 Jahren ihren ersten Sohn geboren. Leidvoll. Denn der Großvater hatte sie nicht geheiratet. In der Entbindungsklinik unverheiratet zu sein war damals eine Schande. Sie hat es ihm wohl nie wirklich verziehen, die Schmach, die sie dadurch erlebt hat. Erst im Juni 1903, als der zweite Sohn unterwegs war, hat der Großvater sie dann geheiratet.

Übernommene Gefühle

Dass ich so viel von meiner Omi Ida übernommen hatte wurde mir erst spät bewusst. So beispielsweise auch das klare und bestimmte Gefühl, dass es wichtig ist, zu heiraten. „Einfach so zusammen zu leben“ kam für mich nicht in Frage. Es war vollkommen ausgeschlossen. So habe ich auch schon mit 19 Jahren das erste Mal geheiratet. Nicht weil ich schwanger war, einfach aus Liebe. Und weil es für mich selbstverständlich war, sich durch die Heirat zueinander zu bekennen.

Selbst jetzt noch, in Zeiten der freien Entscheidung, käme für mich ein Zusammenleben ohne Hochzeit nicht in Frage. Das ist ganz sicher ein übernommenes Gefühl, denn bei anderen Paaren kann ich dem ganz problemlos zustimmen.

1905 wurde der dritte Sohn meiner Großeltern geboren, der durch einen tragischen Unfall 1907 mit nicht einmal zwei Jahren verstarb. Er trug den Namen Walter. Der vierte Sohn, auch Walter, kam 1909 zur Welt. Er starb mit 9 Monaten an einer Kinderkrankheit.

Hauptsache, die Kinder haben genug zu essen

Zwei Söhne hatte meine Großmutter verloren. Später verlor sie auch ihre beiden ersten Söhne. Der älteste Sohn starb als junger Mann zur Zeit der Inflation an den Folgen des Hungers. Für mich war es essentiell, dass ich meinen Kindern und meiner Familie genug Essen auf den Tisch stellen konnte. Meine Töpfe waren immer zu groß, es blieb immer etwas übrig. Aber alles andere hätte mir Panikgefühle gemacht.

Auch das kam von meiner Großmutter. „Hauptsache, die Kinder haben genug zu essen.“ war einer ihrer Sätze. Dieser Satz relativierte so manches Problem. Und ich hatte ihn übernommen. Auch später, in guten Zeiten, war er einer meiner Leitsätze geworden.

Diese große tiefe Sehnsucht

Der zweite Sohn ging zur Zeit der Inflation zur Fremdenlegion. Es war wohl keine freiwillige Entscheidung. Meine Großmutter hat ein Leben lang meinen Großvater dafür verantwortlich gemacht. Sie war ihm dafür abgrundtief böse. Dieser Vorwurf war zu Lebzeiten meiner Großeltern nicht aufzulösen.

Mein Onkel kam aus der Fremdenlegion nicht zurück. Er wurde vermisst. Meine Großmutter wartete jeden Tag auf eine Nachricht von ihm, bis an ihr Lebensende. Und jeden Abend fragte sie: „Ob er wohl wiederkommt?“ Er kam nicht zurück. Sie hatte 4 Söhne verloren.

Übernommene Gefühle

Ich kannte diese große tiefe Sehnsucht auch in mir. Sie war wie ein loderndes Feuer, schmerzhaft und oft fast unerträglich. Dieses tägliche Warten, ich wusste nicht worauf denn eigentlich. Und diese Vorwürfe gegenüber meinem Mann, die meist unberechtigt waren. All das hatte ich von meiner Großmutter übernommen. Nicht weil sie es wollte, sie wollte nur Gutes für mich. Ich hatte es aus Liebe übernommen.

Meine Großeltern sind alt geworden. Erst in einer Aufstellung, etwa dreißig Jahre nach dem Tod meiner Großmutter, konnte sich dieses Gefühl des abgrundtiefen Vorwurfs meiner Großmutter gegen meinen Großvater lösen und der gemeinsame Schmerz über den Verlust ihrer Söhne durfte endlich sein.

Nach dieser Aufstellung milderte sich meine Sehnsucht. Sie wurde erträglicher. Und noch etwas Schönes geschah nach dieser Aufstellung: Ich hatte viel mehr Freude an der Eigenheit meines Mannes. Die Vorwürfe waren verschwunden, ich konnte ihn endlich sehen als der, der er ist: Ein wunderbarer ganz besonderer Mann. Nicht mehr aus der Verstrickung heraus. Jetzt mit einem klaren Blick und einem leichteren Herzen.

Damit die Sehnsucht jedoch ganz gehen konnte, brauchte ich noch mehrere Aufstellungen. Doch davon später.

Mein Großvater Heinrich, der Vater meiner Mutter

Mein Großvater ist 1880 geboren. Er war ein junger Mann, als er im ersten Weltkrieg eingezogen wurde. Den ganzen Krieg über war er an vorderster Front. Nie hat er mir davon erzählt. Es war, als hätte dieser Krieg nicht existiert. Nur von meiner großen Schwester weiß einiges weniges darüber.

Das, was in den Kriegen geschehen ist, war verrückt, unbegreiflich groß, kaum artikulierbar und nicht fassbar. Keiner der Männer, die 1918 als „Verlierer“ aus dem Krieg zurückkam, hat irgendwelche Hilfen bekommen. Es musste weitergehen. Aber wie ging es weiter? Mit Arbeitslosigkeit, Hunger und Armut. Ich kann nur erahnen, welche unglaubliche Leistung meine Großeltern erbracht haben.

Später war mein Opa Heinrich Schuster. In meiner Erinnerung sitzt mein Großvater auf seinem Schusterschemel in der Küche und besohlt Schuhe. Er hatte einen Vogelbauer mit einem Zeisig in der Küche. Die Leidenschaft meines Opas waren Bücher. Jede Woche ging er zur Bibliothek und tauschte Bücher. Besonders die Bücher über Expeditionen in den hohen Norden kannte er alle. Er ist niemals selbst gereist, dafür gab es kein Geld. Aber in seinen Büchern ging er auf Reisen.

Seine Liebe zum hohen Norden habe ich wohl von ihm übernommen. Habe ich doch später Hundeschlittenkurse angeboten und durchgeführt. Und auch das Reisen mag ich sehr. Als mein Großvater starb habe ich im Sarg seine Hand berührt. Ich war 10 Jahre alt und er war der erste tote Mensch, den ich sah. Für mich hatte dieser Tod etwas friedliches.

Ich habe meinen Großvater gut in meinem Herzen. Doch verstrickt war ich wohl mit ihm nicht. Scheinbar übernehmen wir als Mädchen eher die Gefühle der Großmütter. Und Jungen eher die der Großväter. Es ist kein Gesetz, doch ich habe es in den Aufstellungen immer und immer wieder gesehen.

Meine Großmutter Hedwig, die Mutter meines Vaters

Die Eltern meines Vaters habe ich leider nie kennengelernt. Ich habe sie nur einmal im Leben gesehen, als ich drei Jahre alt war. Ich habe nur wenig Erinnerungen an diesen Besuch. Sie wohnten „jenseits der Grenze.“ Später war es nicht möglich, sie zu besuchen.

Meine Großmutter Hedwig hatte zwei Söhne im Krieg verloren, sie waren im gleichen Jahr gefallen. Nur mein Vater, der älteste der Söhne, kam aus dem Krieg zurück. Doch nach dem Bau der Mauer hat meine Omi Hedwig ihren Sohn nie wieder gesehen.

Sie lag 10 Jahre krank im Bett, die drei Schwestern meines Vaters haben sie gepflegt. Die Tanten konnte ich nach der Grenzöffnung noch kennenlernen. Sie erzählten, dass ihre Mutter immer gefragt hat: „Ob er denn nochmal kommen wird?“ Wie ähnlich war das Schicksal meiner Großmütter!

Doch mein Vater kam nicht. Er konnte nicht kommen, die Mauer war dazwischen. Das Telegramm, dass sie verstorben war, bekam er 4 Wochen nach ihrem Tod.

Ich habe meine väterlichen Großeltern nicht kennengelernt. Dass ich dennoch tief mit meiner Großmutter Hedwig verbunden war zeigte dann eine Aufstellung zum Thema Sehnsucht. Die Sehnsucht stand in meinem Rücken und ich zwischen meiner Omi Hedwig und meinem Vater. Ich habe ihrer beider Sehnsucht getragen. Die Aufstellung hat mir Erleichterung gebracht und meiner Omi und meinem Vater endlich, endlich das so lange ersehnte Wiedersehen. Diese Erfahrung war sehr tröstlich für mich. Meine Sehnsucht milderte sich, doch sie blieb weiterhin auch noch nach dieser Aufstellung.

Mein Großvater Paul, der Vater meines Vaters

So wenig weiß ich über meinen Großvater Paul. Erinnern kann ich mich nicht an ihn. Dass ich dennoch mit ihm verstrickt war, hat mich sehr erstaunt. Meine väterlichen Großeltern wurden nach dem ersten Weltkrieg ausgesiedelt. Zu Fuß gingen sie von Hohensalza, dem jetzigen Polen, bis ins Ruhrgebiet, da es dort Arbeit gab. Mit 5 Kindern. Mein Vater war mit 12 Jahren der Zweitälteste, drei Geschwister waren jünger.

Wieder einmal stellten wir meine Sehnsucht auf. Und das Gefühl, nicht ankommen zu können, das mich schon ein Leben lang begleitete. Ich fühlte mich an jedem Ort nicht zu Hause. Mir war klar, dass es nicht angemessen war und nicht zur Situation passte, denn ich hatte ein schönes Zuhause.

Harald Homberger stellte meine väterliche Linie auf, meine Großeltern und die alte Heimat. Manches aus der Aufstellung habe ich vergessen. Was ich aber noch genau vor meinem geistigen Auge sehe, war meine strikte und klare Hinbewegung zur Heimat meines Vaters und meiner Großeltern. Ich lag schluchzend in den Armen meiner Großeltern, die bei ihrer alten Heimat standen. Harald hat all seine Kunst angewandt, mich dort abzulösen. Ich kann mich erinnern, wie schwer es mir in der Aufstellung fiel, mich umzudrehen und auch nur wenige Schritte zu gehen. Erst als mir mein Sohn gegenübergestellt wurde war es möglich. Die Bindung an die Heimat meiner Großeltern war so stark.

Ohne Sehnsucht lebt sich’s leichter

Wieder war meine Sehnsucht ein ganzes Stück weniger geworden. Doch es brauchte noch einige weitere Aufstellungen. Zu meinem verstorbenen ersten Mann, mit dem ich noch verbunden war. Und zu meinen im Mutterleib verlorenen Geschwistern. Auch war ich mit der lebenslangen Sehnsucht der Verlobten meines Vaters verbunden, die mein Vater für meine Mutter verlassen hatte. Sehnsucht, Sehnsucht, Sehnsucht. Doch eines Tages stellte ich fest: Sie war verschwunden, diese Sehnsucht. Ich war einfach da. Und ohne Sehnsucht lebt es sich viel leichter.

Großeltern sind ein Segen

Ich weiß nicht, ob es nur bei mir und meinen Geschwistern so ist: Großeltern sind ein Segen. Natürlich sind bei uns allen die Großeltern oberwichtig, denn ohne die Großeltern gäbe es die Eltern nicht und auch wir wären dann nicht da. Was auch geschehen ist im Leben der Großeltern: Wir können nicht über sie werten. Sie sind einfach unsere Großeltern. Und alles andere ist uns zu groß. Was wissen wir schon davon? Und ob wir all das geschafft hätten, was sie erlebt und überlebt haben?

Mein Mann und ich, wir sind nun selbst Großeltern von 5 wunderbaren Enkelkindern. Ich hoffe, dass wir schon einiges in Aufstellungen klären konnten, damit diese Enkelkinder es leichter haben. Und dennoch muss wohl jede Generation ihre eigenen Herausforderungen lösen. Auf die nur ihnen angemessene Weise. Was aber ganz wunderbar ist: Es ist eine große Freude, Großeltern zu sein.

Verstrickungen und Traumata deiner Familiengeschichte lösen

Ich sage immer wieder das Gleiche: Wenn du schon vieles ausprobiert hast und dich dennoch immer wieder belastende Gefühle bedrücken oder einengende Muster dich einschränken, dann ist es ein guter Weg, eine Familienaufstellung zu machen, damit sich verborgene Dynamiken zeigen und lösen können, die dein Denken bisher nicht erfassen konnte.

Hier findest du die Termine für die Aufstellungsseminare und kannst dich hier auch anmelden. Du kannst auch einen Termin für eine 1:1-Begleitung buchen. Eine Aufstellung ist immer eine Chance. Für neue heilsame Schritte.

Ich wünsche Dir, dass du im Herzen verbunden bist mit deinen Großeltern. Verbunden, aber nicht verstrickt. Und dass du dich heiter fühlst, wenn du an deine Großeltern denkst.

Alles Liebe
Renate

 

 


Impressum:
Text und Foto: Dr. Renate Wirth

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