Meine Schwester Eva Schulz ist Autorin. Zum Weihnachtsfest schenkte sie uns ein kleines Buch mit Geschichten. Selbst geschriebene Geschichten, selbst erlebte Geschichten. Sie haben mich alle berührt. Eine der Geschichten erzählt von einer Mutter, die auf Post von ihrem Sohn wartet, von dem sie schon lange nichts mehr gehört hatte. Die Geschichte trägt den Titel „Post aus Kanada“.
Post aus Kanada. Eine Geschichte von Eva Schulz
„Die alte Frau Pawlik kriegte nie Post. Sie bewohnte seit einiger Zeit die kleine Zweizimmerwohnung neben Kotschaks. Die Kotschaken hatte das beobachtet, weil sie gleich, nachdem der Postbote dagewesen war, zum Briefkasten lief.
Kurz nach ihr schlurfte die alte Frau Pawlik nach unten und kam stets mit leeren Händen zurück. Mit leeren Händen und traurigem Gesicht, wie ihr schien. Eines Tages sprach die Kotschaken sie an, ob sie denn Post erwarte, da sie stets so enttäuscht vom Briefkasten zurückkäme.
„Na ja“, sagte die alte Frau Pawlik fast flüsternd, „mein Sohn, nach Kanada ist er ausgewandert, länger schon, na ja, aber schreiben könnt er doch mal.“
„Und sonst?“, entgegnete die Nachbarin, „schreibt Ihnen sonst niemand?“
„Nein“. Die alte Frau Pawlik schüttelte ihren ergrauten kleinen Kopf. „Nein, niemand. Alle tot.“ Und noch leiser fügte sie hinzu: „Ich kann doch nicht in Ruhe sterben, ohne noch mal von meinem Sohn gehört zu haben.“
Es kam so kläglich von der alten Frau, dass die Kotschaken, die von ihren fünf erwachsenen Kindern oft Post erhielt, einen Entschluss fasste. Sie hatte einen Bruder in Kanada, dem schrieb sie das Problem. Und bald kam der erste Brief, in dem sich der Sohn für sein langes Schweigen entschuldigte, da er erst Arbeit und Wohnung hat finden müssen. Aber nun habe er beides und auch eine nette Frau und er würde nun öfter schreiben. Die Adresse war eine kanadische mit einer Postschließfachnummer.
Die alte Frau Pawlik kam strahlend mit dem Brief zur Kotschaken und diese freute sich mit ihr. Dann antwortete sie und mit krakeligen Buchstaben schrieb sie die Adresse auf den Umschlag. Sie bat ihre Nachbarin, den Brief zur Post zu bringen.
Von da an bekam die alte Frau Pawlik öfter Post. Die Kotschaken erfuhr immer, wie es dem Sohn erging und dass er vorläufig nicht zu Besuch kommen könne. Die alte Frau Pawlik aber erfuhr nicht, dass der Kotschak-Bruder die Briefe schrieb. Sie schaute immer zufriedener. Und da es ihrem Sohn gut ging, konnte sie auch in Ruhe sterben.
Nach ihrem Tod benachrichtigte die Polizei den Sohn, der am Rande der großen Stadt wohnte, in der auch seine Mutter zu Hause gewesen war. Er wagte nicht, sich über die Briefe zu erbosen, die er im Nachlass seiner Mutter fand, fein säuberlich zusammen gebunden und liebevoll mit einer Schleife versehen. Seine Scham war zu groß.“
Hier endet die Geschichte.
Wie wird es dem Sohn nun in Zukunft ergehen?
Wir wissen nicht, was den Sohn bewogen hat zum Kontaktabbruch mit der Mutter. Es gibt so viele Ursachen, die möglich wären. So viele Situationen im Leben können dazu führen, dass es für jemanden eher möglich ist, den Kontakt abzubrechen als das Problem gütlich zu lösen.
Wie viele Mütter warten auf ein Zeichen von ihren Kindern? Wie viele Kinder warten auf eine freundliche Geste ihrer Eltern? Wie viele Paare warten auf ein versöhnliches Wort nach einem Streit, der beide letztendlich wortlos hinterlässt?
In der Geschichte habe ich aufgeatmet, als die Mutter endlich Post bekam. Sie freute sich, fing an zu strahlen und konnte in Ruhe sterben. Gottseidank.
Doch wie wird es dem Sohn ergehen? Jetzt, da er das Bündel Briefe in der Hand hält? Mein Herz als Aufstellerin sagt sofort: Es ist wichtig, dass er zum Aufstellen kommt. Denn mit dieser Last der Scham wird es schwer für ihn, in Frieden zu kommen.
Und die Last, die er schon vorher getragen hat, die zum Kontaktabbruch geführt hat? Kann er die jetzt noch ablegen? Nach dem Tod der Mutter?
Es ist nie zu spät
Ja. Es ist nie zu spät, die Seele ist zeitlos. Jederzeit können sich Heilungsimpulse in unserer Seele vollziehen. Auch weit über den Tod unserer Eltern oder anderer Familienmitglieder hinaus können wir im eigenen Inneren in Frieden kommen. Mit unserer Geschichte, mit unserem eigenen Verhalten, mit dem Verhalten der Anderen. Sogar mit den Ereignissen, die schicksalhaft in unserer Familie gewirkt haben und manchmal auch jetzt noch wirken.
Ein Kontaktabbruch kann existentiell notwendig sein
Manchmal ist ein Kontaktabbruch dringend notwendig. Bei ständiger Abwertung oder gar Gewalt oder Missbrauch ist es wichtig, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Doch zumeist hat ein Kontaktabbruch in der Familie nicht solche existentielle Ursachen.
Viel öfter sind verschiedene Sichtweisen, Unvermögen, Fehlentscheidungen, Missverständnisse oder ärgerliche Reaktionen die Ursache, dass sich einer oder beide verletzt zurückziehen und erst einmal „Funkstille“ entsteht.
In der Familie ist das besonders schwierig. Denn die Seele macht das nicht mit. Sie möchte, dass alle dazu gehören, dass niemand ausgeschlossen wird. Wenn das nicht möglich ist, reagieren wir mit einer latenten Traurigkeit, mit Gereiztheit, unangemessener Wut oder sogar mit körperlichen Symptomen bis hin zu psychosomatischen Erkrankungen.
Kannst du den ersten Schritt gehen?
Kannst du den ersten Schritt gehen? Ein Telefonat, eine Karte oder einen Brief schreiben, Grüße ausrichten? Vielleicht wartet jemand auf solch ein Zeichen von dir? Kannst du ein Zeichen setzen, ohne den anderen unter Druck zu setzen? Kannst du eurer Beziehung eine neue Chance geben?
Du sagst vielleicht, das hast du schon hundert mal probiert, aber das nützt nichts. Du magst dir nicht mehr die 101. Abfuhr abholen. Ja, auch das kann sein. Dann bleibt dir nur, diese Grenzen anzuerkennen.
Im Inneren in Frieden kommen
Es bleibt dir auf jeden Fall aber auch die Möglichkeit, im Inneren in Frieden zu kommen und wohlwollend auf den anderen zu schauen. Oft ist es schwer, einen Kontaktabbruch oder gar ein Zerwürfnis allein wieder aufzulösen. Besonders vor allem, wenn es die Eltern, die Geschwister, die Kinder oder den Partner betrifft.
Dann kannst du zu einer Familienaufstellung kommen. Eine Familienaufstellung zeigt die Ursachen und findet heilsame Lösungen. Hier findest du die nächsten Termine und kannst dich hier auch anmelden.
Gern sende ich dir auch kostenlos das eBook „5 Schritte zu mehr innerer Freiheit“. Damit Beziehungen heilen, Verletzungen vorbei sein können und innerer Frieden möglich wird. Das wünsche ich uns allen.
Herzlichst
Renate
Impressum:
Text: Eva Schulz und Dr. Renate Wirth
Foto: pixabay.com
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post@renate-wirth.de
Praxis: Prinzregentenstraße 7 in 10717 Berlin
Veröffentlichen des Textes und von dessen Auszügen nur mit Erlaubnis der Autorinnen.